Die Raubameisen gehören sicher zu den interessantesten Ameisen hierzulande. Interessant und beeindruckend ist für mich immer ihre Vielseitigkeit. Zum einen sind sie in der Lage, völlig selbstständig zu leben, zum anderen sind sie Sklavenjäger, die, wenn sich die Gelegenheit bietet, gern die eigene Nestbevölkerung durch geraubte Hilfsameisen verstärken. Anders als die allein auf die Sklavenjagd spezialisierten Amazonenameisen sind die Arbeiterinnen der Raubameisen zu allen Arbeiten fähig, die im Nest und ausserhalb dessen anfallen und zu verrichten sind.
Lediglich für die Koloniegründung ist diese Art völlig auf das Vorhandensein von Hilfsameisen angewiesen. Aber auch hier zeigt sie eine Selbstständigkeit, die anderen Duloten (sklavenhaltenden Ameisenarten) völlig abgeht. Eine Polyergus-Königin ist nicht zur Brupflege fähig, sie muss warten, bis Arbeiterinnen selbstständig schlüpfen und sich ihrer annehmen. Eine solche Königin versteht es perfekt, andere Ameisen zu töten, kann jedoch einen zusammengeraubten Bruthaufen nicht gegen andere Feinde verteidigen. Sanguinea-Königinnen tun dies und setzen dabei sogar ihr Leben ein.
Die jungen Königinnen der sanguinea dringen nach ihrer Begattung in Nester von Serviformica ein und können schwache, junge Kolonien manchmal übernehmen. Vermutlich aber gelingen Koloniegründungen nur in sehr schwachen Kolonien, deren wenige feindliche Arbeiterinnen die sanguinea-Königin töten kann oder in gerade von sanguinea-Kolonien geplünderten Serviformica-Kolonien.
Hier kann eine Jungkönigin letzte, verbliebene Puppen zusammen raffen und mit ihnen eine neue Kolonie gründen.
Es soll vorkommen, dass ältere sanguinea-Kolonien Jungköniginnen adoptieren, ich konnte das noch nie selbst beobachten und bemerkte immer eine unerbittliche Feindseligkeit gegenüber Jungköniginnen der eigenen Art. Sie wurden bei meinen Freilandbeobachtungen immer, wenn sie in Nestnähe gestellt wurden, getötet, wenn ich sie nicht zuvor rettete.
Interessant und absolut erstaunlich ist der "Sinneswandel", den eine solche Jungkönigin durchläuft, sobald sie Gelegenheit erhält, sich einiger Puppen einer geeigneten Art zu bemächtigen. Aus einer schüchternen, scheuen, sich duckenden Ameise wird eine wütende, angriffslustige und wachsame Verteidigerin. Hat sie in einem Versteck ein paar Puppen zusammen geraubt, wird sie zu einer echten Raubameise, wobei eine solche Königin den Arbeiterinnen der eigenen Art in nichts zurücksteht, sie greift sogar die menschliche Hand an und verbeisst sich wütend in ihr, wenn man ihr nahe genug kommt. Um ihr Raubgut zu verteidigen, kommt sie in den ersten Tagen der Gründung sogar aus dem Nest bei Störungen und geht offensiv gegen den Feind vor.
Nach einigen Tagen der Ruhe und des Gründens, wenn vllt. sogar erste Arbeiterinnen geschlüpft sind, verliert die sanguinea-Königin diese Angriffslust und Risikobereitschaft und verhält sich wieder ruhiger und überlässt die Nestverteidigung den Arbeiterinnen. Eine junge Königin der Art verhält sich also wie eine echte Raubameise, sie geht offensiv vor und raubt, was sie bekommen kann.
Hier eine Jungkönigin beim Nesteinzug und dem Raub bereitgelegter Puppen.
So wütend und aufgeregt, wie sich eine Königin der sanguinea bei der Gründung verhalten mag, so vorsichtig und fast liebevoll geht sie gleichzeitig mit schlüpfenden Arbeiterinnen um. Freilich aber auch dann immer aufmerksam, schon die kleinste Bewegung des Fotografen vermag sie zu beunruhigen und wird mit drohenden Kiefernsperren quittiert.
Dieser Jungkönigin gab ich ein paar Puppen der eigenen Art und von Serviformica fusca.
Auf dem letztem Foto oben schaut die sanguinea-Königin misstrauisch zum Nesteingang heraus.
Diese Ameisen sind hochinteressante Sklavenjäger, wenn es die Gelegenheit erlaubt (sogenannte fakultative Duloten), auch wenn ihre Taktiken und Feldzüge weniger organisiert erscheinen als die der Polyergus. Aber vielleicht ist gerade das die Stärke der sanguinea und vielleicht ist diese Art deswegen relativ häufig. Unter den Duloten, den sklavenhaltenden Arten ist die sanguinea die häufigste Art in unserem Gebiet. Sanguinea versteht es, sich den unterschiedlichsten Situationen anzupassen, besteht in Kämpfen mit anderen Arten und setzt dabei flexible Kampfstrategien ein. Berichte hierzu gibt es in älterer Literatur wie im STITZ. Nun muss man nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen, worauf hier in diesem älteren Werk aber eindrucksvoll hingewiesen wird, ist eben diese Flexibilität, die Verschiedenheit der Beuteerwerbsstrategien (nichts anderes ist es meist, wenn sich sanguinea mit anderen grossen Arten "anlegt") und die Kommunikation der sanguinea.
Hier nun noch ein paar Worte aus dem STITZ von 1939:
"Die Raubameise vereinigt in ihrem Charakter die Stärke von F. rufa mit der Gewandheit von F. rufibarbis. Sie ist schnell und ruhelos. Sie ist befähigt, sich an den Arbeiten im Nest zu beteiligen, versteht Larven aufzuziehen, geht auf Bäumen den Ausscheidungen von Pflanzenläusen nach und macht Jagd auf Insekten.
Sie ist nach WASMANN von ihren Hilfsameisen aber doch mehr abhängig, als früher vermutet wurde. Beim Finden des Weges ist das Gesicht mehr als der Geruchssinn maßgebend. Sie ist sehr kampflustig, verteidigt ihr Nest, beißt kräftig und spritzt ihr Gift gegen den Feind, ohne, wie es F. rufa tut, ihren Hinterleib nach vor zwischen die Beine zu krümmen. Im Kampf mit gleich großen Ameisen greift sanguinea nicht von vorn an, sondern suchen ihnen in die Seite zu fallen. Sie dringen in kleinen Trupps vor, welche fortwährend Läufer nach hinten schicken, um Verstärkung heranzuholen, und sind darauf bedacht, die Bewegungen des Feindes und seine Schwächen auszukundschaften.
Wenn eine geschlossene pratensis-Armee gegen sie vorgeht, suchen sie diese durch Überrumpeln zu erschrecken. Ist die Front bis auf etwa 1/2 Meter an das Nest der sanguinea herangekommen, so sieht man letztere plötzlich die Flanken und Nachhut des Gegners angreifen, sich mit Ungestüm auf dessen Mitte stürzen, um sich aber sofort zurückzuziehen, wenn sie zu starken Widerstand finden. Derartige Angriffe erschrecken die pratensis so sehr, daß sie nach mehrmaliger Wiederholung mit ihrem Zurückweichen enden. Die sanguinea vermögen stets den Augenblick wahrzunehmen, in dem das Zeichen dazu gegeben wird und verstehen es, ihren Genossen dies ausserordentlich schnell mitzuteilen. Sobald im Heer des Gegners Verwirrung eingetreten ist, dringen die sanguinea plötzlich in seine Mitte, um sich beißend und den pratensis, welche Puppen tragen, diese raubend. Keine Ameise stürzt sich so auf die Kokons anderer Arten wie die Raubameise. Während sich F. rufa hitzig auf den Gegner wirft, um ihn gefangenzunehmen und zu töten, suchen die sanguinea mehr Furcht und Schrecken zu verbreiten. Man sieht dauernd eine oder die andere sich mit einem Gegner herumwälzen, ihn dann loslassen, um wieder über einen anderen herzufallen. In solchem Handgemenge ist zu beobachten, wie eine sanguinea einer pratensis einen Kokon entreißt, ihn auf den Boden wirft, dann mit einer anderen ebenso verfahrend, oft bis zu zehn Mal (FOREL). Bei gleicher Stärke tragen die Raubameisen immer den Sieg davon. Werden sie aber durch eine Übermacht von pratensis überwältigt, so vermögen sie sich in guter Ordnung zurückzuziehen und die Eingänge zu ihrem Nest aufs äusserste zu verteidigen, das zu belagern erstere nicht verstehen.
Kleinere Abteilungen von Raubameisen greifen auch Kolonien von Lasius flavus, umbratus und niger an, töten die Bewohner und rauben Puppen, die sie verzehren."
Ich finde, das charakterisiert die Art sehr gut. Natürlich muss man aber bei mancher Formulierung berücksichtigen, dass diese Worte vor einiger Zeit geschrieben wurden.
Kämpfe von sanguinea mit rufa und anderen Arten habe ich schon oft beobachtet, immer fiel auch mir dabei auf, wie clever die sanguinea vorgingen und daß sie stets versuchten, Schwachstellen des Gegners zu nutzen. Tatsächlich gehen sie immer in offener, fast lockerer Formation vor und verstehen es trotzdem blendend, ihre Angriffe zu koordinieren und gemeinsam vorzugehen.
Zu den Überfällen auf Nester der Serviformica schreibt STITZ:
"Die Züge zum Erbeuten der Hilfsameisen, die "Sklavenjagden", werden von einer sanguinea-Kolonie nur 2-3 mal im Jahre unternommen, Mitte Juni bis Anfang August (FOREL), wenn die geflügelten Geschlechtstiere der Hilfsameisen die Nester verlassen haben und nur noch ungeflügelte sowie Arbeiterinnen und Arbeiterinnenkokons darin vorhanden sind. Nach FORELs Beobachtungen beginnen die Beutezüge des Morgens; je nach der Entfernung, in der sich die angegriffenen Nester befinden, dauern sie von 11 bis 1 oder 2 Uhr, zuweilen 3bis 4 Uhr nachmittags. Klassische Schilderungen solcher Jagden verdanken wir HUBER, WASMANN,FOREL:
Die Raubameisen marschieren ungeordnet in kleinen Abteilungen ab, welche beständig Kundschafter aussenden und die Verstärkung heranholen, die erst nach und nach eintrifft. Man sieht keine zusammenhängende Armee mit Vortrupp und Nachhut, sondern auf einem Raum von 20 bis 30 Schritt Trupps von Ameisen, zwischen diesen vereinzelte Arbeiterinnen, welche kommen und gehen. Ist die Spitze auf ein Nest von fusca oder rufibarbis gestoßen, so haben die Bewohner Zeit, die ersten sanguinea zu vertreiben, sogar Gefangene zu machen. Sind die Verstärkungen angelangt, so beginnt die Belagerung des Nestes, kein plötzlicher Überfall. Dabei halten sie die Mandibeln geöffnet, die Fühler nach hinten gelegt. Die rufibarbis kommen nun in großer Zahl hervor um die Belagerer anzugreifen. Sind diese nun in genügender Zahl vorhanden, so suchen sie sich auf die Nestöffnungen zu stürzen und die rufibarbis daran zu hindern, ihre Puppen fortzutragen. Aber sie (die rufibarbis) sind durch die Anwesenheit der sanguinea meist schon so erschreckt, daß sie im Augenblick des Angriffs schon zum großen Teil außerhalb des Nestes sind. Die sanguinea besetzen nun die Nestöffnungen, die mit einer Puppe Herauskommenden zurücktreibend, die Ledigen durchlassend. Nach wenigen Minuten ist das Nest von den Bewohnern verlassen; ihre Puppen sind darin zurückgeblieben. Bald nachher macht sich ein Teil der sanguinea nach allen Seiten zur Verfolgung auf, um den mit ihren Königinnen auf Grasbüschel oder in Erdlöcher geflüchteten rufibarbis-Arbeiterinnen etwa mitgenommen Puppen abzujagen. Schließlich wird die Beute ohne Hast in das eigene Nest gebracht. Diese Plünderung dauert noch während des folgenden Tages, selbst bis zu drei Tagen und mehr an, wenn die Entfernung des Nestes der Hilfsameisen weit und die Beute beträchtlich ist. Die (ursprünglichen) Bewohner kehren in das ausgeraubte Nest nicht zurück."
Soweit erstmal. Für mich ist das Interesse an diesen tollen Ameisen erstmal wieder geweckt.
Ich hoffe ausserdem, bei manchen das Interesse an solcher älterer Literatur geweckt zu haben, im STITZ befinden sich sehr schöne, treffende und ausführliche Beschreibungen der meisten mitteleuropäischen Arten.
LG, Frank.